Was ist da eigentlich passiert?

 

700 x 0,6 x 0,3 x 0,15 x 0,1= ?

Wir laden Dich ein zu einer kleinen Rechenaufgabe:
In Deutschland erkranken jährlich etwa 700 Menschen an einer Meningokokken Infektion, davon sind 420 keine Kleinkinder. Davon 126 durch Serotyp C. 15% davon erkranken schwer - sehr schwer: Das heißt dann Waterhouse-Friderichsen-Syndrom, auch als Nebennierenapoplexie oder Suprarenale Apoplexie bekannt. Diese 15% von 126 sind 18 Menschen. Von diesen sterben 90% innerhalb der ersten Tage, die übrigen machen dann eine Zahl von...1.


Part one

Justina kam am 13. April 2017 zu ihrer Mutter und sagte, es ginge ihr nicht gut. Kopf- und Gliederschmerzen, später dann Erbrechen. Musste sich einfach mal richtig ausschlafen, mag man da sagen. Wer hat sich noch nicht mit den Worten "Mir geht's nicht gut, ich gehe in's Bett verabschiedet" oder?

 

Morgens dann der Schock - der ganze Körper ist übersäht von blauen Flecken und Justina hat unerträgliche Schmerzen. Mit hohem Fieber und Krankenwagen geht es ins Krankenhaus in Porz, das sie direkt weiter schickt an die Uniklinik Köln. Gegen 12 Uhr vormittags erreicht sie endlich die Uniklinik in Köln und dort lautet der Verdacht schnell - eine schwere Meningokokken-Infektion. Schier endloses Warten auf Infos, Justina ist nicht mehr ansprechbar. Nicht einmal zwölf Stunden später liegt sie bereits im künstlichen Koma. Und dann die Aussage des Arztes: "Justina wird die Nacht wahrscheinlich nicht überleben".

 

Justina starb in dieser Nacht.

 

Justina starb sogar zweimal in dieser Nacht.  Für je etwa eine Minute war Justina irgendwo, irgendwo anders. Doch jedes Mal holten die Ärzte und Ärztinnen sie zurück ins Leben. Und dann blieb sie hier. Vollgepumpt mit fast allem, was die Medizin so zu bieten hat. Breitbandantibiotika, um den wahrscheinlichen Auslöser, die Meningokokken, zu bekämpfen. Sie blieb hier und fing an zu kämpfen.

Part Two

Und dieser Kampf sollte noch lange dauern.

 

Justinas Zustand bleibt die ersten Tage weiterhin lebensbedrohlich. Die oberste Priorität hat daher die Stabilisierung ihres Herz-Kreislauf-Systems. Sie wird die gesamte Zeit künstlich beatmet. Problematisch ist jedoch, dass die Meningokokken-Bakterien bei ihr nicht nur einen lebensbedrohlichen Kreislaufschock ausgelöst haben, sondern dass die Bakterien auch Giftstoffe, sogenannte Endotoxine, freigesetzt haben, die zu einer Blutvergiftung führen. Diese Giftstoffe aktivieren die Gerinnung, sodass sich eine massive Anzahl von Thromben (Klumpen) in den Blutgefäßen bildet. Die verbrauchten Gerinnungsfaktoren stehen dann allerdings nicht mehr für die regulär notwendige Blutgerinnung zur Verfügung und verhindern so die ausreichende Durchblutung der peripheren Stromgebiete, sprich von Füßen, Händen und Augen. Zudem kommt es zu starken Einblutungen in die Nieren. Man spricht auch vom Waterhouse-Friderichsen-Syndrom.

 

Bereits wenige Stunden nach Einlieferung in die Uniklinik sind beide Füße und Unterschenkel dunkel-lila verfärbt. Im Laufe des Folgetages, Karsamstag, beginnen sich auch die Finger lila zu verfärben. Ein ungleicher Kampf an vielen Fronten beginnt. Die Ärzte erwägen einen extremen Schritt als letztes Mittel, Justina zu stabilisieren. Erst zum zweiten Mal überhaupt in der Uniklinik Köln angewandt, führen sie eine neuartige Form der Blutwäsche mit einem speziellen Filter bei Justina durch. Zwar gibt es keinen eindeutigen Fortschritt zu dokumentieren, aber man hat zumindest den Eindruck, als würde das unerbittliche Fortschreiten der Verfärbungen an Händen und Füßen aufgehalten.

 

In der ganzen Zeit ist die Familie bei ihr und versucht ihr bei diesem härtesten Kampf beizustehen. In der Überzeugung, dass vertraute Klänge und Stimmungen ihr nur helfen können, wird viel gesungen und musiziert. In einem Tagebuch wird für Justina das Geschehen dokumentiert, damit sie auch nachvollziehen kann, was passiert ist, wenn sie wieder aufwacht.

 

Langsam stabilisiert sich die kritische Lage. Und nach acht Tagen ist es dann unglaublicherweise soweit. Justina hat das Unschaffbare geschafft. In der Nacht auf den Sonntag wird der Beatmungsschlauch entfernt.

 

Justina ist wieder bei Bewusstsein.

Part three

Acht Tage verpasst, dein Körper tut nicht mehr was du willst und überall diese Schläuche und ein konstantes Piepen - Justinas Aufwachen auf der Intensivstation wird begleitet von einem sogenannten Delirium. Sie ist kaum ansprechbar. Die meiste Zeit redet sie "wirres" Zeug und leidet unter Verfolgungswahn. Wörter wie "IS", "Tunesien", "Tod" und "versteckt euch" fallen immer wieder. Für die Ärzte und die Familie ist lange nicht klar, ob auch ihr Gehirn Schaden genommen hat. Zwischendurch gibt es immer wieder kleine Lichtblicke, in denen sie einige sinnvolle Phrasen sagt, bevorzugt über Dumbledore oder Harry Potter. Doch das Delirium hält fast zwei Wochen an. Erst danach beginnt Justina langsam zu verstehen, was da passiert ist.

 

Sie hat überlebt.

Ihre Füße und Finger jedoch nicht.

 

Auch die Nieren funktionieren noch nicht. Beinahe täglich muss sie an die Dialyse. Trotzdem beginnt sie ihren Kampf zurück ins Leben. Zunächst muss sie wieder zu Kräften kommen, denn zwischenzeitig wiegt sie nur noch 39kg. Das nächste Projekt sind die Füße und Hände. Mit der Zeit wird klar, dass die Füße und die Finger nicht mehr zu retten sind - Es bleibt nur noch die Amputation. Ein einhalb Monate nach Ausbruch der Krankheit werden ihr zunächst die oberen Fingerglieder der rechten Hand amputiert. Im Abstand von ca. 14 Tagen folgen die oberen Fingerglieder der linken Hand und der linke Unterschenkel. Zum Schluss wird auch der rechte Unterschenkel amputiert.

 

Justina, 19, hat die Meningokokken-Sepsis überlebt. Aber zu einem hohen Preis: sie ist fortan beidseitig unterschenkelamputiert, beidseitig fingeramputiert und hat einen blinden Fleck im rechten Auge.